Der Begriff „Human-Centered Design“ ist, zumindest in seinem zweiten Teil, für deutsche Ohren und Augen leicht missverständlich. Unter „Design“ verstehen wir meist primär das Aussehen, die grafische Gestaltung einer Website. Das Konzept Human-Centered Design allerdings fasst darunter ganz grundsätzlich den gesamten Prozess der Planung, Erstellung und Verbesserung eines interaktiven Systems, zum Beispiel eben einer Website, zusammen. Und sobald man versteht, was hinter dem Konzept steckt, wird auch klar, warum das so sein muss.
Was ist Human-Centered Design?
Der Begriff des Human-Centered Design (HCD) beschreibt eine Vorgehensweise zur Entwicklung interaktiver Systeme, deren Fokus darauf liegt, diese Systeme nützlich und den Nutzer:innen angemessen zu entwickeln und zu gestalten. Dafür werden die Menschen in den Mittelpunkt gerückt, die das System nutzen, ihre (auch u.U. sehr unterschiedlichen) Bedürfnisse, Erwartungen und Möglichkeiten werden in Planung und Erstellung des Systems berücksichtigt.
Für das Human-Centered Design sind drei Grundaspekte konstitutiv:
- Empathisch
Human-Centered Design nimmt Menschen als vollständige Wesen in den Blick. Sein Umgang mit einem bestimmten System ist nie nur intellektuell, sondern kann von zahlreichen Aspekten bestimmt sein (Emotionen, körperliche Einschränkungen, Erfahrungshorizont usw.), die umfassend in den Blick genommen werden. - Iterativ
Wie andere Konzepte auch, arbeitet Human-Centered Design mit der Grundidee, dass sich Konzepte durch einen iterativen Prozess kontinuierlich und systematisch verbessern lassen. Digitale Systeme haben dabei den Vorzug, dass der iterative Prozess auch nach einer Veröffentlichung fortgesetzt werden kann. - Interdisziplinär
Die Ergebnisse eines HCD-Prozesses können umso besser sein, je weniger sie durch die Grenzen einer Disziplin oder eines fachlichen Horizonts begrenzt sind. Deshalb ist die Beteiligung unterschiedlicher Disziplinen und Nutzer:innen aus unterschiedlichem Kontext nicht nur nützlich, sondern zwingend erforderlich.
Wie unterscheidet sich Human-Centered Design von User-Centered Design?
Der Grundansatz von HCD hat viele Überschneidungen mit User-Centered Design (UCD), und in der Praxis werden die beiden Begriffe oft synonym verwendet. Allerdings legt User-Centered Design den Fokus auf die Bedürfnisse und Herausforderungen der Endnutzer:innen, bei Ihrer Website also z.B. Ihrer Kund:innen. Auch diese können je nach Zielgruppe(n) sehr divers sein, Human-Centered Design nimmt aber noch andere Menschen mit in den Blick. Das könnten zum Beispiel die Redakteur:innen sein, die die Seite betreuen, Kundenberater:innen, die mit den Kund:innen über Angebote auf der Website sprechen, und viele mehr.
Der UX-Experte William Hudson hat das in einem Video zum Thema Human-Centered Design am Beispiel von medizinischen Geräte beschrieben, wie sie in einem Krankenhaus zum Einsatz kommen. Deren primäre Nutzer:innen sind natürlich in der Regel das medizinische Fachpersonal: Pfleger:innen, Ärztinnen und Ärzte, die direkt mit dem Gerät interagieren. Aber um die Geräte wirklich erfolgreich zu gestalten, gilt es, auch weitere Menschen und deren Bedürfnisse zu berücksichtigen, zum Beispiel die Patient:innen, Wartungstechniker:innen oder auch das Reinigungspersonal.
Welche Rolle spielt das User Experience Design (UX Design)?
Im User Experience Design geht es darum, die Gesamterfahrung eines Menschen, der mit einem interaktiven System zu tun hat, möglichst positiv vorauszuschauen, zu planen und zu gestalten. Auch das beinhaltet, dass sich das System in seinen Abläufen und seinem Aussehen möglichst an den Bedürfnissen und Erfahrungen der Nutzer:innen orientiert. Meist wird auf diese Weise eine möglichst intuitive Nutzer:innenführung angestrebt.
UX Design ist deshalb ein wichtiger Bestandteil der Umsetzung von Human-Centered Design, es umfasst gewissermaßen die gesamten Vorgänge zur Planung, Gestaltung und Umsetzung der interaktiven Elemente eines Systems. HCD ist in diesem Sinne das übergeordnete Konzept, das die Bedürfnisse unterschiedlicher Menschen in den konkreten Umsetzungsprozess einbringt.
Wie wird Human-Centered Design konkret umgesetzt?
Der Prozess, der Human-Centered Design zugrunde liegt, ist in seiner Grundform recht einfach strukturiert, wird aber in seinen Einzelheiten natürlich für jedes zu planende System etwas abweichen. In der Praxis kommt auch hinzu, dass Human-Centered Design für viele Anwendungsfälle nur teilweise bzw. nicht konsequent angewandt werden kann. Hier gibt es im Einzelnen sicher auch Abwägungen zwischen Aufwand, Budget und vorhandener Zeit, die mit berücksichtigt werden müssen.
Im Folgenden soll der idealisierte Prozess für Human-Centered Design beschrieben und für bessere Anschaulichkeit beispielhaft anhand eines Website-Projektes konkretisiert werden.
Vier Aktivitäten
Der Grundprozess im Human-Centered Design ist durch vier Aktivitäten geprägt, die in Form eines Kreislaufs iterativ immer wieder durchgeführt werden: Verstehen, Definieren, Gestalten und Evaluieren (oder Englisch: research, specify, design und evaluate).
Bei den einzelnen Aktivitäten geht es dabei um Folgendes:
- Verstehen und Beschreiben des Nutzungskontexts (Menschen, Umfeld, Situation)
- Definieren der Anforderungen
- Entwerfen der Lösungen (Entwürfe, Prototypen, Dummys, Systeme)
- Testen und Evaluieren der Lösungen
Was Human-Centered Design von konventionellen Ansätzen unterscheidet
Diese vier Schritte entsprechen im Kern auch dem, was üblicherweise bei der Planung und Erstellung einer Website gemacht wird; allerdings gibt es zwei wichtige Merkmale des Human-Centered Design, die bei normalen Planungsprozessen i.d.R. fehlen:
- Statt wie bei HCD direkt mit Nutzer:innen zu sprechen, wird oft nur über diese gesprochen. Für eine Website wird zum Beispiel die Zielgruppe beschrieben, verschiedene Profile vorgesehen und für diese Personas erstellt. Das ist schon ein wichtiger Schritt, weil es die Nutzer:innen nicht nur als abstrakte Größen, sondern konkreter und mit (wenngleich fiktiven) Namen und Persönlichkeiten beschreibt – das ist eine wichtige Maßnahme um tatsächlich empathisch an das Projekt heranzugehen. Was jedoch fehlt sind die ganz konkreten, menschlichen Aspekte, Erfahrungen und Bedürfnisse, die nur von den direkt betroffenen Nutzer:innen geäußert werden können.
Wie eingangs beschrieben, kommt hier noch hinzu, dass Human-Centered Design tatsächlich an allen Betroffenen interessiert ist. Für die Planung einer Website ist also nicht nur die Sicht der Nutzer:innen/Kund:innen relevant, sondern eben auch die Perspektive der Redakteur:innen, Kundenberater:innen usw. - Alle vier Aktivitäten werden nacheinander in einem Kreislauf wiederholt. Wenn der Prozess nicht nach den Prinzipien von Human-Centered Design durchgeführt wird, werden nach Recherche von Kontext und Definition der Anforderungen meist nur noch die Schritte 3 und 4 iterativ wiederholt, um die Entwürfe und Prototypen sukzessive zu verbessern. Zwar bringt das schon Verbesserungen, durch den Verzicht auf Rückkopplung mit den konkret betroffenen Menschen (Schritt 1) und der Anpassung der Anforderungen (Schritt 2) sind jedoch Anpassungen nur in dem Korsett möglich, das man sich beim ersten Mal gegeben hat. Fehler und Auslassungen, die dabei passiert sind, können nun nicht mehr korrigiert werden.
Die Kunden verstehen Customer Journey: Definition, Phasen, Touchpoints
Die einzelnen Schritte im Human-Centered Design beim Erstellen einer Website
Um die einzelnen Schritte konkreter am Beispiel einer Website beschreiben zu können, greifen wir auf die fiktive Firma P&P – Papier und Prozessleittechnik GmbH zurück, Spezialist im Bereich Entwicklungsdienstleistungen und Sondermaschinenbau in der papierverarbeitenden Branche, die wir in einem ganz anderen Artikel schon beispielhaft herangezogen hatten.
Das Projekt: P&P benötigt eine neue Website, die nicht nur ausführliche Informationen über die komplexen Maschinen des Unternehmens enthält, sondern zugleich ein Shopsystem für Ersatz- und Verschleißteile enthält. Die bestehende Website enthält diese Funktionalitäten bereits, muss aber in Technik und Design völlig neu aufgesetzt werden.
Wie sähe nun – beispielhaft und nicht vollständig – der Prozess im Human-Centered Design aus?
1. Verstehen und Beschreiben des Nutzungskontexts
Das interdisziplinäre Projektteam identifiziert zunächst, wer alles die Website nutzt (oder in Zukunft nutzen soll). Das Team sucht das direkte Gespräch mit konkreten Nutzer:innen aus den Kundenunternehmen – dabei stellt sich heraus, dass bei einigen Kund:innen allein der Einkauf für die Beschaffung von Ersatzteilen zuständig ist, bei anderen dies die technischen Mitarbeiter:innen direkt von ihren Tablets erledigen, wenn sie im laufenden Betrieb Probleme identifizieren. Dafür ist ihnen besonders wichtig, die Ersatzteile für bestimmte Geräte in strukturierter Form schnell anzeigen lassen zu können.
Das Team kommt auch mit potentiellen Kund:innen ins Gespräch, die sich auf der Website über die Angebote des Unternehmens informieren wollen, sowie mit den Mitarbeiter:innen aus dem Marketing von P&P, die die Website betreuen müssen. Darüber hinaus nutzen Mitarbeiter:innen im Außendienst die Website, um bestimmte Themen zu präsentieren, und nutzen dafür unterschiedliche Endgeräte, von Mobiltelefonen bis zu Laptops mit Beamer.
2. Definieren der Anforderungen
Durch die Befragungen ist klar geworden, dass die Website für unterschiedliche Endgeräte und Nutzungssituationen vorbereitet werden muss. Darüber hinaus gibt es aber Vorgaben des Auftraggebers und technische Rahmenbedingungen. So soll das bisherige PIM-System (Product Information Management) beibehalten werden und eine neue Zahlungsoption eingeführt werden. Darüber hinaus gibt es natürlich Vorgaben für das Gesamtbudget und den Zeitrahmen für den Website-Relaunch.
3. Entwerfen der Lösungen
Auf der Grundlage der Gespräche und Anforderungen wird nun ein erster Prototyp entworfen, werden die Informationsarchitektur und die technische Grundlage geplant. Hierfür arbeitet das interdisziplinäre Team eng zusammen und entwickelt in mehreren Iterationen eine Version, die in den unterschiedlichen Bereichen der Website auf die Bedürfnisse von Mitarbeiter:innen, Dienstleister:innen und Kund:innen eingehen soll. Dabei wird viel Wert auf die Lösung von Problemen gelegt, die von Bestandskund:innen beim Umgang mit dem Shop berichtet wurden.
4. Testen und Evaluieren der Lösungen
Mit ersten Papier-Mock-ups oder Klickdummys werden Usability-Tests durchgeführt. Dazu werden einzelne Gesprächspartner:innen aus Aktivität 1 gebeten, ihre spontane Reaktion auf die Entwürfe zu verbalisieren, während sie zugleich beobachtet werden. In späteren Iterationen werden noch weitere Feedback-Methoden eingesetzt.
Dabei kommen zum Beispiel verschiedene Schwierigkeiten ans Licht, die vorher nicht klar erkennbar waren:
- Die Redakteur:innen von P&P sind mit dem Backend der Website in seiner bisher geplanten Form nicht zufrieden: bestimmte, immer wiederkehrende Arbeitsabläufe sind für sie sehr kompliziert.
- Jene Kund:innen, die ihre Bestellungen aus dem laufenden technischen Betrieb vornehmen, beklagen, dass die Elemente im Shopsystem ungünstig gestaltet sind, etwa durch uneindeutige Label oder zu kontrastarme Farbwahl.
Für beide Themen besteht also Handlungsbedarf, deshalb wird der gesamte Prozess, mit Aktivität 1 beginnend, auf der Basis des bestehenden Wissens noch einmal komplett neu durchlaufen. So sollen für alle bemängelten Schwierigkeiten deutlich besser Lösungen gefunden werden.
Ein iterativer Prozess
Die iterative Wiederholung des gesamten Prozesses mit allen vier Aktivitäten hat das Ziel, das Endprodukt – hier also die Website – so weit wie möglich zu optimieren. Das Ziel dabei:
- mit dem Ergebnis so detailliert wie möglich die „contexts of use“, also Nutzungskontexte abzubilden und zu treffen, um folglich
- ein System zu entwickeln, das möglichst genau an die Situationen angepasst ist, in denen es auch tatsächlich genutzt wird.
Der entscheidende Schritt dabei ist, dass man in Aktivität 1 die Bedürfnisse und Herangehensweisen der mit dem System arbeitenden Menschen qualitativ herausarbeitet.
Für die iterative Herangehensweise im Human-Centered Design ist es von zentraler Bedeutung, dass die Beteiligung und Befragung der Nutzer:innen nicht erst (als Feedback und in Usability-Tests) am Ende der Produktentwicklung steht, sondern diese von Anfang an kontinuierlich begleitet. So werden ihre Bedürfnisse und realen Nutzungskontexte bereits in die ersten Prototypen integriert.
Die Einbindung von realen Menschen hat über das konkrete Projekt hinaus natürlich auch den Vorteil, dass auf diese Weise reale Verbindungen und Partnerschaften zwischen allen Beteiligten entstehen. Es kann für ein Unternehmen insofern ein sowohl menschlicher wie wirtschaftlicher Gewinn sein, wenn es seine Kund:innen von Anfang an bei der Entwicklung seiner Systeme oder seiner neuen Website mit einbindet.
Ein Sekundärziel: Joy of Use
Das Ziel von gutem Human-Centered Design geht dabei idealerweise darüber hinaus, möglichst einfache und intuitive Benutzung zu ermöglichen. Gerade bei komplexen Interfaces wird angestrebt, die Nutzung so angenehm wie möglich zu machen und idealerweise sogar mit positiven Emotionen zu verbinden. „Joy of Use“, Freude an der Nutzung macht treue Kund:innen.
Um das erreichen zu können, ist eine interdisziplinäre Ausrichtung des Umsetzungsteams von großer Bedeutung. An solchen Systemen – seien es Maschinen-Interfaces oder Websites – sollten Programmierer:innen, Grafikdesigner:innen und Usability-Expert:innen eng zusammenarbeiten, aber auch die Arbeit von Texter:innen spielt eine große Rolle.
Scrum in der Praxis Mit interdisziplinären Teams agil arbeiten
Fazit: Auch Human-Centered Design ist nicht perfekt
Human-Centered Design hat als Konzept den zentralen Antrieb, reale Menschen und den realen Kontext, in dem interaktive Systeme genutzt werden, vor allem anderen in den Blick zu nehmen.
Es geht also darum, letztlich von konkreten Menschen abstrahierende Konzepte wie die Customer Journey oder Personas für bestimmte Fragestellungen wieder durch reale menschliche Bedürfnisse zu ergänzen oder zu ersetzen.
Obsolet werden diese Konzepte dadurch freilich nicht; die Customer Journey ist sehr hilfreich dabei, die unterschiedlichen Phasen eines Entscheidungs- und Kaufprozesses zu beschreiben, und Buyer Personas erlauben es schon deutlich besser, statt Problemen konkrete menschliche Bedürfnisse in den Vordergrund zu rücken.
Human-Centered Design ergänzt diese Konzepte durch den direkten Kontakt mit konkret von einem System oder Projekt betroffenen Menschen. Wenn es möglich ist, das konsequent umzusetzen, ist HCD eine große Bereicherung und ermöglicht die Planung und Umsetzung von interaktiven Systemen, die wesentlich besser an ihre konkreten Nutzungskontexte angepasst sind als andere.
Human-Centered Design integrieren
Zugleich dürfen und sollen Sie sich für die Praxis durchaus fragen, inwieweit es praktikabel (und finanzierbar) ist, die oben beschriebenen Abläufe iterativ immer vollständig umzusetzen. Überzeugte HCD-Anwender:innen würden argumentieren, dass es sich langfristig auszahlt, die betroffenen Menschen konsequent einzubinden – auch das ändert aber nichts an den finanziellen und zeitlichen Beschränkungen, denen solche Projekte stets unterliegen.
Der Erfolg des HCD-Ansatzes hängt auch damit zusammen, ob und in welchem Umfang Sie Mitarbeiter:innen und Kund:innen finden, die den Gestaltungsprozess bereitwillig und ausführlich mitmachen wollen. Externe Anreize können dabei helfen, aber ohne eigene Motivation der Stakeholder erreichen Sie womöglich auch nur zweitklassige Ergebnisse.
Auch wenn dies gelingt, schließt der beschriebene Prozess für Human-Centered Design nicht automatisch aus, dass blinde Flecken entstehen, dass wichtige Nutzungskontexte und -aspekte ignoriert werden oder ganze Zielgruppen ausgeblendet werden.
Aus diesem Grund kann es für Sie die richtige Lösung sein, mit einer eher traditionellen Herangehensweise an Zielgruppen und Personas zu beginnen, den Prozess zur Erstellung Ihrer neuen Website dann aber gezielt mit Teilen aus dem Human-Centered Design zu erweitern.